
Leben mit ME/CFS Mit Kunst das Leben zurückerobern
Das Leben mit ME/CFS ist von permanenter Erschöpfung geprägt. Manche Betroffene setzen ihre kostbare Energie ganz gezielt für Kunst ein und lernen so, ihren Alltag mit der Krankheit zu gestalten.
Menschen mit ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) wurden lange nicht ernst genommen und haben oft einen mehrjährigen Leidensweg hinter sich, bevor die Diagnose Gewissheit bringt. So war es auch bei Barbara Daiber. Drei Jahre lang kämpfte die Niedersächsin mit Heiserkeit, Schlaflosigkeit und einem Körper, der sie nach und nach im Stich ließ.
Kraftlosigkeit in Gedichtform
"Das Reden hat mich extrem angestrengt, so wurde das Schreiben für mich zum Selbstgespräch", sagt Daiber. Durch das Schreiben habe sie dem Körper geholfen, die Krankheit zu verarbeiten. Allerdings saß sie dabei in einem Sessel, der sie von allen Seiten gestützt hat. Leichtes Tippen auf dem Computer war möglich, das Schreiben mit der Hand bereits zu anstrengend. Die Krankheit fand auch in der Form ihres Schreibens Ausdruck: Die Lyrikerin ließ alle Satzzeichen weg, schrieb alle Wörter klein.
Ihr Leben sei durch ME/CFS viel radikaler geworden, sagt Daiber: "Ich muss jetzt ganz bewusst entscheiden, wofür ich meine wenige Kraft einsetzen will." Dass sie dabei aufs Schreiben gesetzt habe, sei entscheidend gewesen: "Ich habe gelernt, Ja zu sagen zu dem, was geht, und mich nicht mehr als die zu definieren, die ich einmal war."
Quelle: Deutsche Gesellschaft für ME/CFS
Doppelt so viele Erkrankte wie vor der Corona-Pandemie
In Deutschland litten vor Beginn der Corona-Pandemie schätzungsweise 250.000 Menschen an ME/CFS. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass sich die Zahl der Erkrankten durch Covid-19 verdoppelt hat. Jugendliche und Menschen Mitte dreißig sind besonders betroffen; Frauen zudem dreimal häufiger als Männer.
Die Politikerin und Publizistin Marina Weisband hat ihre Erkrankung 2021 bekannt gemacht. Bei ihr wurde ME/CFS durch das Epstein-Barr-Virus ausgelöst. Öffentliche Auftritte bestreitet sie meist im Rollstuhl. Obwohl jedes Interview sie für Tage schwächt, will die 37-Jährige über die Multisystemerkrankung aufklären: "Jemand wie ich ist verpflichtet, darüber zu sprechen."
Schon vor der Erkrankung war Kunst für Weisband ein wichtiges Ausdrucksmittel. "Ich liebe es, Dinge zu gestalten und kreative Lösungen zu finden", sagt die Autorin. Ihren Rollstuhl hat sie mit Blumen bestickt, ihre Gehstöcke sucht sie passend zur Garderobe aus. "Mein medizinisches Equipment soll nicht nur funktional sein, sondern auch Schönheit in mein Leben bringen. So behalte ich die Kontrolle. Ich gestalte die Krankheit - nicht sie mich."
Long Covid in der Kunst
Gerade durch die vielen Long Covid-Betroffenen ist das Chronische Fatigue Syndrom auch in der öffentlichen Kunstwelt angekommen. Entstanden sind mehrere fotografische Arbeiten über Erkrankte, etwa von Brent Stirton, Andreas Seibert oder Arend Heim. Heim ist selbst schwer von ME/CFS betroffen und auf intensive Hilfe angewiesen. Seine Bilder entstanden vorwiegend in den ersten Monaten seiner Erkrankung, teilweise aus dem Bett heraus, weil ans Aufstehen nicht zu denken war.
Mit "Crash" haben Betroffene außerdem ein Bühnenstück über die Langzeitfolgen von Long Covid und ME/CFS initiiert. In der "feministischen Theaterperformance" blicken die Schauspielerinnen auf die männlich geprägte, medizinische Fachwelt und sezieren gesellschaftliche Vorstellungen chronischer Viruserkrankungen. Auch hier soll die Ohnmacht von Erkrankten sichtbar gemacht werden.
Ausdruck der eigenen Brüchigkeit
Auf Instagram finden sich zudem diverse Zeichnungen von durchlöcherten Körpern, Fotos zerbrochener Eierschalen und gemalte Gesichter, denen Blasen aus dem Kopf zu schweben scheinen. Innen und Außen verwischen - eine Entgrenzung, die krank macht.
Kunst wird so für manche ME/CFS-Betroffene zur neuen Sprache. Durch Zeichnungen, Fotografien, Malerei oder Poesie finden sie eine Ausdrucksweise für das, was lange als überempfindliches Verhalten abgetan wurde: ein Leben, dem durch die Krankheit die Kraft entzogen wurde.