Familien afghanischer Ortskräfte kommen 2021 in einer Flüchtlingsunterkunft in Brandenburg an.
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Aufnahme afghanischer Flüchtlinge Ehemaliger Fallbearbeiter empört über Bundesregierung

Stand: 15.05.2025 13:50 Uhr

Die Union will die bereits getroffenen Aufnahmezusagen für gefährdete Afghaninnen und Afghanen einzeln prüfen. Der ehemalige Chef der Fallbearbeitung spricht von einem "Affront".

Von Armin Ghassim und Andrea Brack-Peña, NDR

In der Debatte um die Einhaltung deutscher Aufnahmezusagen gegenüber gefährdeten Personen aus Afghanistan hat sich nun erstmals der frühere Chef der Fallbearbeitung der vom Bundesinnenministerium beauftragten "Koordinierungsstelle" geäußert.

Im Interview mit dem ARD-Magazin Panorama zeigt der promovierte Jurist Tilmann Röder sich verärgert über die Ankündigung von Kanzleramtschef Thorsten Frei, die neue Bundesregierung wolle jeden Fall erneut prüfen und erteilte Aufnahmezusagen nach Möglichkeit wieder entziehen.

"Die Forderung, jeden Einzelfall erneut zu prüfen, ist ein Affront gegenüber allen Beteiligten am Programm. Gegenüber der Koordinierungsstelle und ihren Mitarbeitern, aber auch und insbesondere gegenüber den deutschen Behörden, die jeden Fall genau durchleuchtet haben und jenseits von Zweifeln zum Ergebnis gekommen sind, wer diese Menschen sind und dass sie einen Grund haben, aufgenommen zu werden", so Röder.

Die Koordinierungsstelle war bis Ende 2024 zuständig für die erste Auswahl besonders gefährdeter Afghaninnen und Afghanen, die dann zur weiteren Prüfung an deutsche Behörden weitergegeben wurden, erklärt er: "25 Fachleute aus verschiedenen Themenbereichen haben dort gearbeitet und jeden Fall nach dem Vier-Augen-Prinzip geprüft. Wenn die geringsten Zweifel aufkamen, wurden interne Spezialisten etwa zu afghanischen Behördenpapieren oder zu Islamismus herangezogen. Dort wurde sauber gearbeitet und ich habe keine Zweifel an einem einzigen Fall, der damals über unsere Schreibtische gegangen ist."

Die Koordinierungsstelle habe die geprüften Fälle schließlich an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weitergegeben, das diese nochmals auf Plausibilität überprüfte und selektierte.

Tilmann Röder

Röder war von Dezember 2022 bis März 2024 Chef der Fallbearbeitung. Bis 31.12.2024 war er weiter als Senior Advisor bei der Koordinierungsstelle tätig. Die Koordinierungsstelle wurde Ende 2024 aufgelöst.

Afghanen mit deutscher Zusage in Pakistan gestrandet

Auf Anfrage von Panorama teilt das Bundesinnenministerium mit, die Bundesregierung habe im Koalitionsvertrag angekündigt, die freiwilligen Bundesaufnahmeprogramme "so weit wie möglich" zu beenden. Eine Entscheidung über die Aufnahme der bereits bewilligten Fälle stehe noch aus - bis dahin seien Einreisen grundsätzlich ausgesetzt.

Rund 2.450 Afghaninnen und Afghanen mit gültiger deutscher Aufnahmezusage warten laut Bundesinnenministerium derzeit in Pakistan auf ihre Ausreise nach Deutschland. Sie haben bereits mehrere Prüfverfahren durchlaufen, an denen unter anderem das BAMF, der Bundesverfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und die Bundespolizei beteiligt sind.

Erstmals Einsicht in die Aufnahmeliste

Reporter des ARD-Magazins Panorama erhielten erstmals Einsicht in die vollständige Liste aller noch in Pakistan wartenden Afghanen mit deutscher Zusage. Darunter sind neben ehemaligen Ortskräften deutscher Organisationen sowie Menschenrechtsaktivistinnen auch hochrangige ehemalige Regierungsbeamte, wie etwa ein Mitarbeiter aus dem Büro des letzten Vize-Präsidenten Amrullah Saleh.

Der ehemalige Regierungsbeamte erklärt gegenüber Panorama: "Ich habe in meinem politischen Amt und in öffentlichen Reden und Artikeln immer wieder die Ideologie der Taliban angegriffen. Ich werde gesucht. Viele meiner ehemaligen Kollegen wurden bereits festgenommen und hingerichtet." Tatsächlich finden sich in afghanischen Medien und auf dem öffentlichen Facebook-Profil des Mannes auch heute noch Hunderte kritische Postings über die Taliban. Er wartet mit seiner Frau und Kindern bereits seit mehr als einem Jahr in Pakistan auf die Ausreise nach Deutschland.

BAMF-Mitarbeiter in Pakistan sollen abgezogen werden

Pakistan schiebt seit Monaten tausendfach afghanische Flüchtlinge in ihr Heimatland ab. Die bedrohten Personen mit deutscher Zusage müssen ihr Visum jeden Monat bei den pakistanischen Behörden erneuern. Sie erhalten die Verlängerung nur, solange Deutschland die Absicht bekundet, diese aufzunehmen.

Nach Informationen des ARD-Magazins Panorama zieht das Bundesinnenministerium heute alle Mitarbeiter des BAMF aus Pakistan ab, die an der abschließenden Prüfung der Fälle vor Ort beteiligt sind. Grund dafür ist laut BMI die angespannte Sicherheitslage aufgrund des Indien-Pakistan-Konfliktes. Die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes sind bereits abgereist, wie das BMI Panorama bestätigte. Unklar bleibt, wann und ob sie wieder zurückreisen, um die Fälle abzuschließen.

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtet Panorama am 15. Mai 2025 um 21:45 Uhr.